Geschlecht in der Medizin – Kampf um Wissen und Macht
Der Kampf um Wissen und Macht.
Was ist das Geschlecht eines Menschen? Wer weiß es, wer legt es fest und nach welchen Kriterien? Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erklärte in der Sache Goodwin 2002, dass heute nicht mehr von rein biologischen Kriterien ausgegangen werden kann. 2003 hat der Gerichtshof das Recht auf die Selbstbestimmung der Geschlechtsidentität festgelegt, die er als wesentlicher Teil des Rechts auf Selbstbestimmung betrachtet ( siehe Van Kück gegen Deutschland ).
Dennoch wird noch heute den meisten Kindern bei der Geburt ein Geschlecht in Abhängigkeit der Morphologie jener Strukturen, die als sog. Geschlechtsmerkmale benannt werden, ein Geschlecht zugewiesen. Ausgenommen davon sind in Deutschland seit 2013 zumindest jene, die ärztlicher Einschätzung zufolge nicht „eindeutig“ einem der beiden Standardgeschlechter „weiblich“ oder „männlich“ zugewiesen werden können. Ihr Geschlechtseintrag bleibt in der Geburtsurkunde leer. Bei allen anderen erfolgt die Zuweisung in eines der beiden binär und als konträr zueinander verfassten Standardgeschlechter, obwohl niemand voraussagen kann, wie sich ein Mensch einmal basierend auf der Eigenwahrnehmung geschlechtlich verorten wird. Die geschlechtliche Selbstverortung kann, muss jedoch nicht, gemäß der kulturell verankerten Geschlechternormen erfolgen, sie kann, muss jedoch nicht, binär verfasst sein. Ob und welche Rolle hierbei unterschiedliche körperliche Verfasstheiten spielen, ist bisher unklar. U.a. Chromosomen und Genitalien werden wiederholt auch seitens der Medizin als Begründung herangezogen, die Rolle von Hormonen ist bis heute nicht geklärt. In neuerer Zeit gehen manche davon aus, dass das Geschlecht „zwischen den Ohren sitzt“. In Frankreich erhielt 2015 eine erwachsene Intersexperson in erster Instanz das Geschlechtsmerkmal „neutral“ zugestanden, wobei sich das Gerichtsurteil derzeit im Berufungsverfahren befindet. Der Diskurs um die Frage, was das Geschlecht eines Menschen sei und ausmache, wer darum weiß und somit eine verlässliche Aussage treffen kann, ist innerhalb wie außerhalb der Medizin inzwischen stark umstritten. Die aktuelle Debatte scheint weit entfernt von tragfähigen Konzepten und Konsens, die insbesondere von jenen getragen werden, um die es geht, d.h. alle, die von Geschlecht und seinen negativen Konsequenzen wie u.a. fehlende Chancengleichheit und Diskriminierung betroffen sind.
Zielgruppe:
Studierende aller Fachbereiche, die sich mit dem menschlichen Sein wie auch seiner gesellschaftlichen Integration auseinandersetzen. Dabei werden insbesondere jene aus den Bereichen Recht, Medizin, Psychologie, Biologie, Soziologie, Politologie und Erziehungswissenschaften angesprochen.
Zielsetzung:
Dieser Einführungsvortrag zur Geschlechterdiversität zeigt einerseits medizinische Perspektiven zu kulturellen Mechanismen auf wie u.a. der Geschlechtszuweisung, ihre Einbettung darin und hinterfragt diese andererseits durch Einbindung außermedizinischer Betrachtungsweisen. Damit soll Studierenden unterschiedlicher Disziplinen ein kritischer Blick auf jenes Fachgebiet eröffnet werden, das den Anspruch erhebt, das Geschlecht eines Menschen erkennen und diesbezüglich zwischen Gesundheit und Krankheit unterscheiden zu können, jedoch in jüngster verstärkt in den Verdacht geraten ist, durch seine Maßnahmen und Prozeduren, insbesondere durch Pathologisierung ohne wissenschaftlich belegten Krankheitsnachweis, seine Klientel altersunabhängig eher zu schädigen, als zu dessen Gesundheit beizutragen.
Mit anschliessender Podiumsdiskussion um 21:00
Institut für Politikwissenschaft & Soziologie der Universität Würzburg
Arbeitskreis Gender
09.11.2016 – Dr Erik Schneider